Aus ‚Sie kommen bei Nacht, bei Tag müssen sie gehen‘

Ich arbeite endlich mal wieder an einem Prosaprojekt – eine neue Kurzgeschichte. Als work in progress werde ich ab und zu ein paar Auszüge oder Ideen posten:

[…]

Zu Beginn der langanhaltenden Nacht hatten noch Fledermäuse ihre Kreise gezogen, und man hatte Eulen lautlos durch die Lüfte fliegen hören. Doch nun hatten die Insekten und die Mäuse und sogar die Ratten einfach aufgegeben. Sie verharrten nur noch dort, wo sie sich gerade zufällig ausgeruht hatten. Und mit ihnen hatten auch die Fledermäuse und Eulen nach zunächst zahlreichen langen, dann immer weniger werdenden und erfolgloseren kurzen Runden aufgegeben. Viele starben ohne Gegenwehr. Sie konnten keinen Widerstand leisten. Nicht einmal die schlauen Raben konnten aufbegehren. Sie hatten sich tief in die Wälder zurückgezogen. Und auch in den Städten war – lange nach dem letzten so vertrauten Gurren der Tauben – das Krächzen der Krähen verstummt. Niemand wusste, woher der Angriff stammte und niemand fragte. Der Angriff war Alltag geworden.

[…]


(April 2020 / Mai 2020)

The Interrupter

I was in a psychiatric hospital a couple of years ago. One day I was sitting in the atrium, with a friend, when this guy, let’s call him Bob, walked in with two orderlies. Bob was limping … he hasn’t done that before, I thought. He’d been a fellow patient of mine and some kind of a nut – I didn’t like him. He interrupted everyone – I didn’t like that. He’d been kicked out a few days earlier. He had boozed some ouzo and a couple of beers over the weekend to „calm down“, as he had said. He didn’t get away with that, though. So in addition to interrupting people, he has also interrupted his therapy, I thought.
We had already bid farewell after that and now he was back. But why? This was so awkward … I couldn’t even keep talking to my friend. I was paralysed – calm on the outside, but thinking all the time. Why was he back? Suddenly, I saw him waving – heaving-handedly.
„Hey“, he said.
„Hi“, I muttered, looking around, not really sure if he was talking to me. Why was he back?, I thought.
„I’m back … ward 4 … Say hello to Elaine“, he said. I couldn’t reply – still only wondered why he was back. Ward 4, ward 4, I thought – acute care unit, definitely, maybe even closed, I thought. Hospitalisation, I thought.
„You good?“, he asked – which … felt weird, given the context.
„Well, yeah, you?“, I uttered. He didn’t reply … and I got somewhat nervous as the seconds passed. Why was he back?
Then he raised his arm … all calm … and pulled the edge of his hand passed his throat, as if he was cutting his head off with his hand. Silence. That’s why he’s back, I thought.
„Didn’t work“, he said, all calm still.
I stared at him for what felt like minutes … frozen … gathering my thoughts.
„Nice … that … it … didn’t work“, I stuttered, now very worried about where this was going.
„Don’t think so“, he dropped and turned away, interrupting our conversation, as I should have expected.
Bob tried to interrupt his life, but unlike with conversations, he failed, I think now. And actually … I later found out that Bob’s suicide attempt had really been bound to fail. He went to park his car in some random park, connected the exhaust to the cabin, got really drunk, popped some pills, and started the engine. Bob was found, obviously. And now that I think about it – he must have wanted to … interrupt his own suicide … making him the ultimate interrupter.
Well, come to think about it … good for him.

(October 2019)

Ein Österreicher über Österreich – Ein prophetischer Einwurf

„Diese immer dümmer werdenden Regierungen, die wir hier in Österreich haben, werden schon mit der Zeit dafür sorgen, daß es in Österreich bald keinerlei Kultur mehr gibt, nur noch das Banausentum, sagte Reger. Die Atmosphäre hier in Österreich wird immer kulturfeindlicher, von Jahr zu Jahr wird sie kulturfeindlicher und alles spricht dafür, daß in nicht allzu langer Zeit Österreich ein vollkommen kulturloses Land ist […] Das Kulturlicht wird ausgelöscht in Österreich, das sage ich Ihnen, der Stumpfsinn, der in diesem Land schon so lange herrscht, löscht in nicht allzu langer Zeit das Kulturlicht aus. Dann ist es finster in Österreich, sagte Reger. Aber Sie können sagen, was Sie wollen in dieser Hinsicht, Sie werden nicht gehört und wenn Sie gehört werden, hält man Sie für einen Narren […] Schade, daß ich das nicht mehr erlebe, wie nämlich die Österreicher im Finstern tappen, weil ihr Kulturlicht ausgegangen ist. Schade, daß ich daran nicht mehr teilnehmen kann, sagte er.“

Thomas Bernhard (1931 – 1989), Alte Meister, 1985, S. 183f.

Views of India VI

Das Fremde begleitet dich überall. In den Staßen, bei den Menschen, aber auch in der Natur. Was war das?, denkst du oft. Oder, was soll das bedeuten? Viele Ereignisse und Entscheidungen bleiben selbst nach gründlicher Überlegung unklar für dich. Warum machen die Menschen das so? Du denkst, mit der Zeit gewöhnst du dich daran, aber das stimmt nicht – zumindest nicht für die kleinen unscheinbaren Alltagserlebnisse. Das Wetter, ja, der Verkehr, ja, das Essen, ja. Diese lernst du zu schätzen. Aber die kleinen Unterschiede, die dir in den ersten Wochen gar nicht aufgefallen sind, vielleicht, nein. Daran gewöhnst du dich nicht, zumindest nicht so schnell, sie bleiben dir für lange Zeit fremd, und werden auch für lange Zeit fremd bleiben. Gehst du etwa durch den Wald und siehst etwas durch die Bäume rauschen – was war das? Ein Vogel? Ein Affe? Eine Fledermaus? Du weißt es nicht. – Schaust du auf den Boden und siehst einen schuppigen Zylinder – was ist das? Eine Schlange? Eine Echse? Ein Ast? Du weißt es nicht und denkst an die viel instinktivere Sicherheit, die du in den Wäldern und Forsten deiner Heimat – was für ein scheußlicher Begriff – verspürst, wo du auch längst nicht alles kennst, geschweige denn sicher identifizieren kannst – vielleicht sogar gar nichts – aber dich trotzdem mit allem im Allgemeinen viel vertrauter fühlst, obwohl du gar nicht weißt, warum. Ist es vielleicht das, was so etwas wie Heimat wirklich ausmacht, sich einem Zustand des intuitiven Vertrautfühlens zumindest annähern, und so schwer erlernbar scheint? Dann ist Heimat eine Illusion.

(März 2019)

ICH (Views of India V)

chappati, porotta, poorie – drei Brote aus Weizenmehl, tomato fry – leicht angebratene Zwiebeln, Ingwer, grüner Chili in gewürzter, roter Tomatensoße mit eingelegten frischen Tomatenscheiben, und onion salad – grob gewürfelte rohe, rote Zwiebel mit nur kontrapunktischer Zugabe von frischen, grünen Chili- und Tomatenscheiben. Eine großartige Mahlzeit in Thrissur, Kerala, im berühmten Indian Coffee House (ICH), einer durch Arbeiter – organisiert in der von A. K. Gopalan (AKG) initiierten India Coffee Board Worker’s Co-operative Society – selbstverwalteten Restaurantkette im kommunistischen Bundesstaat. Im ICH sind die mit einer farbenfrohen Blumenkette umhangenen und einer roten Glühbirne von unten beleuchteten Heiligenbilder, die man in so vielen indischen Glaubensgebäuden verschiedenster Konfessionen findet, durch ein Bild des von unten mit einer roten Glühbirne und mit einer roten, nicht bunten, Blumenkette umhangenen AKG ersetzt worden, eine dem Malewitsch-Quadrat analoge Adaption heiliger Traditionen durch eine hier politische Moderne. Das Ambiente, die Ausstattung, die Mahlzeit sind einfach, spartanisch, hervorragend.

(Februar 2019)

Views of India IV

Krähenvögel, Corviden, zählen allgemein zu den intelligentesten und anpassungsfähigsten Tieren auf unserem Planeten. In Indien – und anliegenden Ländern – besonders verbreitet ist die house crow, die Glanzkrähe (Corvus splendens), die mit ihrem grauen Hals und schlankem Körper einen etwas eleganteren Eindruck als die europäischen Krähen macht, was durch ihren außerordentlich kräftigen Schnabel noch betont wird. Dementgegen steht ihr ausgesprochen aggressives Verhalten gegenüber anderen Glanzkrähen und ihre Kühnheit im Umgang mit Menschen, die sie gleichzeitig als Genossinen, Genossen und Gefahr zu begreifen und – das legt ihr vorsichtiger aber zugleich unverfrorener Blick nahe – insgesamt irgendwie zu verstehen scheint. Die Glanzkrähe kommt ausschließlich in der Nähe menschlicher Siedlungen vor, Populationen unabhängig von Menschen sind nicht bekannt. Sie ist extrem anpassungsfähig, macht sich alle möglichen Nebenprodukte der menschlichen Zivilisation zunutze: sie ernährt sich hochopportunistisch von menschlichen Abfällen und kleineren, ebenfalls menschliche Nähe suchenden, Tieren. Sie schläft in Gruppen über vielbefahrenen Straßen und verwertet für ihre Neste laut Wikipedia sogar Überreste von Stacheldraht. Ihr Immunsystem spielt das Anpassungsspiel ebenfalls mit. Ende des 19. Jahrhunderts stellte der Pathologe T.R. Lewis in Untersuchungen fest, dass eine Vielzahl der Glanzkrähen Hämatozoen, also Blutparasiten, in sich tragen – er war überrascht, dass die Tiere so überhaupt leben, oder besser überleben, konnten, während tausende lebende Parasiten in jedem Gewebe ihrer Körper wimmelten. Doch die Krähen schienen nicht im Geringsten davon gestört. Wohl auch aufgrund dieser bemerkenswerten Widerstandsfähigkeit wird die Glanzkrähe in vielen Teilen der Welt als invasive Art eingeschätzt und wurde in Australien nach Einschleppung ausgerottet. Anders ergeht es ihr in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet in Südasien: dort ging mit der Bevölkerungsexplosion der Menschen eine Explosion der Bevölkerung der Glanzkrähen einher. Alleine, also ohne Menschen, hätte sie das nicht geschafft. Die Glanzkrähe ist irgendwie so anpassungsfähig, dass sie schon wieder nicht anpassungsfähig ist.

(Februar 2019)

Views of India III

Die Dichotomie von Schwein und Kuh: das Schwein als Allesfresser, die Kuh als Grasfresserin. Falsch. Das Bild von der Kuh als friedliches, ausschließlich grasfressendes Wesen ist nur halbrichtig. Friedlich sind Kühe, ja – mit Ausnahme einer für Tiere dieser Größe und Statur befremdlichen und lächerlichen Schreckhaftigkeit – aber ausschließlich grasfressend, nein. Kühe fressen alles, wenn man sie lässt. Völlig unbeeindruckt stehen sie heilig in Müllhaufen und wühlen und scharren durch die leeren und halbleeren Plastikverpackungen, wie riesige Ratten mit Hörnern, oder lassen gleich völlig ungeniert ihren ganzen Kopf komplett in einem Mülleimer mit breiigem wet waste verschwinden. Genau wie Ratten machen sie sich selbst in den größten Großstädten unsichtbar, passen sich auf ihre Weise ideal an das Stadtbild an, sodass es nach kürzester Zeit bereits nicht mehr überraschend ist, auf einer etwa vierspurigen und vollbefahrenen Straße einer nicht aus der Ruhe zu bringenden Kuh zu begegnen, vermutlich auf Nahrungssuche. Ihr Lieblingssnack ist Karton, mehr oder weniger reine Zellulose, wie gemacht für den aufs Wiederkäuen ausgelegten Magen. Das kann trotzdem unmöglich gesund sein für die, sagte ich mir gleich, als ich das erste Mal eine Kuh ganz genüsslich Karton kauen gesehen habe, fast meinen Augen nicht trauend. Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich sind das die Chips der Kühe, dachte ich, und fand es irgendwie ziemlich erfrischend, zu sehen wie andere Tiere ihren Gelüsten nachgehen und gelegentlich stark prozessierte Nahrung ihrer sogenannten natürlichen Nahrung vorziehen.

(Februar 2019)

Views of India II

90% der in Indien lebenden, oder arbeitenden, ich weiß nicht mehr, Menschen arbeiten im sogenannten unorganisierten Sektor, habe ich gelesen. Das erklärt einiges: etwa, warum es tageszeitenunabhängig und überall gleich voll ist. Die Mühle des organisierten Arbeitsalltages gibt es so nicht, das, was wir Stoßzeiten nennen, ist gleichmäßig verteilt. Die Leute rennen nicht wie die Blöden ins Büro rein, morgens zwischen 7 und 8, und wie die Blöden raus aus dem Büro, abends zwischen 5 und 6. Der Biorhythmus scheint hier den Primat über die Arbeit zu haben. Spürbar ist das auf den Straßen, in den Restaurants, und auch im Nah- und Fernverkehr. Früh morgens ist aber trotzdem Ruhe, dann, vor und kurz nach Sonnenaufgang, wenn nur die Frauen der reproduktiven Arbeit nachgehen müssen, die von Außen unsichtbar bleibt.

(Februar 2019)

Views of India I

Das Erste, was mir an Indien aufgefallen war, als ich einen Hügel hinaufstieg, um mir einen besseren Überblick über die Landschaft zu verschaffen, war das vollständige Fehlen von Hochspannungsstromleitungen. Dadurch sieht die Landschaft allgemein schöner, weil unberührter als in Deutschland und Zentraleuropa, aus. Später stellte sich diese erste Annahme als Irrtum heraus – die Stromleitungen in Indien verlaufen eigentlich nur viel tiefer, was sie aus der Höhe praktisch unsichtbar macht. Der Ausblick, die Belohnung, zeigt aber, dass es prinzipiell eine gute Idee ist, auf Hügel zu steigen, um sich einen Überblick von unbekanntem Gebiet, zunächst ungeachtet unzähliger vom Wesentlichen ablenkenden Details, zu verschaffen. Das gilt sowohl für echte Hügel, als insbesondere für mentale Hügel, bei denen das Heraufsteigen und Heraufklettern durch die ständige Verlockung, sich in den Einzelheiten zu verlieren, vielleicht noch viel anstrengender ist, aber die Notwendigkeit und der Gewinn auch viel größer sein können.

(Februar 2019)

Das Kantholz – Ein Einwurf

Es ist relativ selten, dass Sprachwandel – diese ominöse, vom Konservatismus so sehr verhasste, von progressiven Kräften dafür zuweilen umso heißer herbeigesehnte, -gewünschte und -geschriene kollektive Kraft der menschlichen Kommunikation – ganz unmittelbar und live in action beobachtet werden kann. Es müssen einige Faktoren zusammenkommen, dass eine gesamten Gruppe von Menschen bemerken kann, dass sie Zeug*innen einer semantischen Verschiebung geworden sind, und sie sich selber bewusst werden können, dass die Bedeutung eines Wortes, die ihnen gestern auf eine Art und Weise klar war, sich heute in eine möglicherweise ganz andere Art und Weise verwandelt hat. Starke emotionale Kollektivreaktionen können das vielleicht erreichen, wobei diese eher in symbolistischen Metaphern und begrifflich kryptischen Wortneuschöpfungen oder Repräsentationen, wie 9/11 für so etwas wie Terrorismus oder Fukushima für die Gefahr der zivilen Nutzung von Kernenergie, münden, die den gesellschaftlichen Wortschatz eher erweitern als morphen. Darüber will ich aber gar nicht schreiben. Schreiben will ich über eine andere Form des Sprachwandels – die der semantischen Erweiterung, bei der einem bereits bestehenden Begriff eine neue Bedeutung zugeschrieben wird, die praktisch diesen Begriff um eine zusätzliche Dimension ergänzt; eine neue Ebene, die den Begriff vielschichtiger macht. Spannend, ja, aber wie sollst du dir das jetzt im Detail vorstellen? Um ein Beispiel zu geben, denke einfach an das Wort Kantholz, das bis vor wenigen Tagen ein unbescholtenes Dasein gefristet hat, und ein ruhiges Leben geführt hat, in einem Sprachspiel, das am ehesten Baumarkt-Jargon genannt werden könnte, und welches praktisch nie (und wenn dann von sehr wenigen nur) gespielt wurde. Wer – und ich behaupte niemand – hätte gedacht, dass dieses Wort, diese vielleicht langweiligste Bezeichnung eines einfachen Nutzgegenstandes, Kantholz, jemals das Potential gewinnen würde, intensive Lachkrämpfe auszulösen? Was ist passiert? Hybris, sage ich dir. Nicht nur eine starke emotionale Kollektivreaktion treibt den Sprachwandel, sondern auch der Versuch, diese durch Lügen und Betrügereien künstlich zu erzeugen. Wenn also jemand versucht, aus der Behauptung, einen feigen und brutalen Mordversuch mit einem sogenannten Kantholz nur knapp und glücklich überlebt zu haben (und der Begriff Kantholz wurde dabei mehrfach und auffällig betont, so auffällig oft, dass dieses sonst so unscheinbare Wort auf einmal gesellschaftliche Präsenz erlangte), emotionales Kapital zu schlagen, sich dann aber herausstellt, dass die Verletzungen durch einen Sturz nach einem Schlag auf den Rücken, ganz ohne Schlagwaffe, entstanden sind, dann gibt es ein gewisses gesellschaftliches Gespür dafür, diesen gescheiterten Versuch in das gesellschaftliche Gedächtnis zu integrieren und diesen gescheiterten Versuch an irgendetwas mit dem Vorfall Zusammenhängendes zu knüpfen. In diesem Fall hat es die Phantomwaffe, das dadurch jetzt berühmt-berüchtigte Kantholz, getroffen. „Aber ist das denn nicht einfach nur Schadenfreude?“ magst du fragen. Nein, sage ich dir. Wer das Kantholz so stark hobelt, darf sich danach nicht beschweren, dass auch Späne fallen. Bleibt noch die Frage, was sich nach diesem Vorfall eigentlich wirklich und tatsächlich verändert hat. Eigentlich nicht viel. Nur die Sprache hat sich leicht geändert, wie sie es schon immer getan hat.

(Januar 2019)